»Ich fordere meinen Freispruch«

Erster Prozesstag gegen die deutsche Journalistin Mesale Tolu in der Türkei

  • Kevin Hoffmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Bereits vor Beginn des ersten Prozesstages im Verfahren gegen die deutsche Journalistin Mesale Tolu wurde es am Mittwoch hektisch. Stunden vorher war das Gerichtsgebäude weiträumig von einem großen Aufgebot von Sicherheitskräften abgesperrt worden. Ali Riza Tolu, der Vater der Angeklagten, bemühte sich, in Silivri eine öffentliche Erklärung abzugeben: Seine Tochter sei unschuldig und müsse sofort freigelassen werden. »Meine Tochter ist seit fünfeinhalb Monaten im Gefängnis. Es wird versucht, gegen sie eine Strafe von 15 Jahren zu verhängen. Doch alle Anschuldigen sind Lügen.« Daraufhin drängten die vor Ort eingesetzten Beamten der Gendarmerie Tolu von den anwesenden Journalisten ab, um weitere Erklärungen zu verhindern.

Auch der Prozess selbst begann mit erneuten Rechtsverstößen. So hat der Vorsitzende Richter Mustafa Çakar auch über die Untersuchungshaft von Mesale Tolu entschieden. Das ist laut Artikel 23 der türkischen Strafprozessordnung nicht erlaubt. Einen Einspruch dagegen lehnte das Gericht jedoch ab und eröffnete den Prozess.

Nach der Überprüfung der Personalien der 18 Angeklagten begann die Verlesung der Anklageschrift, die allen eine Mitgliedschaft in der als Terrororganisation in der Türkei verbotenen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei sowie Propaganda für die MLKP vorwirft. Die Staatsanwaltschaft fordert für jeden 15 bis 20 Jahre Haft. Mesale Tolu wies alle Anschuldigungen in einer persönlichen Verteidigungsrede zurück und griff dabei vor allem den geheimen Hauptbelastungszeugen der Staatsanwaltschaft an.

Dieser behauptete, dass Tolu von 2014 bis 2015 Gebietsverantwortliche der MLKP für das Istanbuler Viertel Gazi gewesen sei. Die Angeklagte hält dem entgegen, dass sie in diesem Zeitraum schwanger und deshalb hauptsächlich in Deutschland gewesen sei. Auch danach habe sie sich quasi nie in dem Viertel aufgehalten; sie sei nur vier Mal in ihrem Leben dort gewesen.

»Es wäre einfach absurd, mit einem wenige Monate alten Kind jeden Tag zwischen Kartal und Gazi hin und her zu reisen!«, so die Journalistin, die in Kartal auf der anderen Seite der Stadt wohnt. Laut Tolu sei diese »geheime Zeugenaussage« unbegründet und eine Fälschung. Auch die Anschuldigung, dass sie sich durch die Teilnahme an Beerdigungszeremonien und Presseerklärungen politischer Organisationen wie der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP) strafbar gemacht habe, wies sie entschieden zurück.

Indem sie über diese Ereignisse berichtete, habe die Nachrichtenagentur ETHA die Aufgabe erfüllt, die Öffentlichkeit zu informieren, verteidigte sich Tolu. Sie wies zudem darauf hin, dass es kein Verbrechen sein könne, an Beerdigungen von Menschen teilzunehmen, die ihr Leben im Kampf gegen den »Islamischen Staat« verloren haben. Die Journalistin betonte, dass es bei allen ihr vorgeworfenen Taten um das Recht der freien Meinungsäußerung gehe, und dass die Teilnahme an Beerdigungen eine Frage der Religion sowie des Gewissens und nicht verboten sei. »Ich fordere meine Freilassung und meinen Freispruch. Ich habe keine der genannten Straftaten begangen und habe keine Verbindung zu illegalen Organisationen«, so Tolu.

Auch die Bundestagsabgeordnete der Linksfraktion Heike Hänsel, die als einzige deutsche Abgeordnete den Prozess begleitet, fand in Istanbul deutliche Worte: »Wir haben hier sehr konstruierte Vorwürfe gegen Mesale Tolu, die eigentlich unhaltbar sind. Sie müsste längst auf freiem Fuß sein. Es kann aber sein, dass sie hier weiterhin als Geisel von Präsident Erdogan festgehalten wird.« Der Prozess soll am Donnerstag fortgesetzt werden.

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